Gedanken über die europäische Krisengeneration - Jahrestagung der Grünen Akademie (Tag 2)

Im zweiten Panel ihrer Jahrestagung 2014 „Europa 1914 / 2014“ lud die Grüne Akademie  dazu ein, „über neue Formen des Protests und politischer Kollektivität [...], über Resignation, Aufbruch und Hoffnungen“ in der „europäischen Krisengeneration“ zu reden. Gemeint waren damit insbesondere die 18- bis 35-Jährigen in den süd- und osteuropäischen Krisenstaaten. Moderiert wurde diese Veranstaltung durch die Koordinatorin der Grünen Akademie Anne Ulrich.

„Die Krise ist der Kollaps eines Traums“

Der bulgarische Soziologie Ivan Krastev (49 Jahre) erzählte, wie seine Landsleute einst von Europa träumten: Wohlstand, Freiheit, Gleichheit, Demokratie. Die Krise sei nun der „Kollaps eines Traums“, der in Bulgarien bereits vor dem EU-Beitritt von 2009 zu zerfasern begonnen hatte. Die EU, von der die Bulgaren Verbesserung ihrer krisenhaften Verhältnisse erhofften, war zum Zeitpunkt des bulgarischen Beitritts schon selber in die Krise geraten. Ihre „Europäisierung“ entfaltete vor und mit dem Beitritt weit weniger innere Dynamik als etwa im Fall Polens, sie erfuhren keinen dramatischen wirtschaftlichen Aufstieg, und sie seien zudem im neuen institutionellen Gefüge der EU „politische Leichtgewichte“ geblieben. Innerhalb der EU sind die Karten heute so verteilt, dass davon auszugehen ist, dass ein Aufstieg in politische und ökonomische Gleichheit der Verhältnisse nicht zu erwarten ist. Es gebe ein auf Dauer angelegtes „Drinnen“ und „Draußen“ in der erweiterten Union – das perspektivisch auch die Legitimationsgrundlagen und Inklusionskraft der europäischen Gemeinschaft belaste.

Wie gehen die jungen Bulgarinnen und Bulgaren mit dieser Situation um? Gibt es politische Aufbrüche, eine neue Protestbewegung, neue Formen politischer Kollektivität? Krastev beobachtet das Gegenteil: einen geringen Organisationsgrad der Zivilgesellschaft, eine Individualisierung und eine Privatisierung von Politik mit der Folge, dass „kollektive, echte politische Forderungen“ schwach blieben. Gerade im vergangenen Jahr kamen die Dinge in seinem Land allerdings in Bewegung: Im Februar 2013 gab es große Demonstrationen gegen Armut, Korruption und Bankenmacht, seit Sommer – nach Neuwahlen - finden regelmäßig große Studentenproteste statt. Das politische System kämpft mit Vertrauensverlust, die Bulgaren protestieren „gegen alle Regierungsparteien seit der politischen Wende im Jahre 1989“ als einer "Oligarchie des Übergangs“ (SpiegelOnline 24.1.13). Entsteht neue Hoffnung, dass die EU die Intentionen der Protester/innen sieht und unterstützt? 

Ein Spannungsverhältnis zwischen Patriotismus und europäischer Identität?

Eine spannende Kontroverse entstand zu Krastevs Überlegung, inwiefern junge Menschen, die frustriert und ohne Zukunft das Land verlassen, eine positive Form von „nationaler Identität“ oder Patriotismus entwickeln könnten – verstanden als eine Rückbindung ans Herkunftsland, , die als Brücke zwischen europäischer Orientierung und politisch-kultureller Rückbindung an ihre Herkunftsländer dienen könnte  – um sowohl die jeweilige nationale Entwicklung durch politisches Interesse zu befördern als auch der frustrierten Nationalisierung – dem national(istisch) motivierten Auseinanderdriften der EU entgegenzutreten.

 

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Mit nationaler Identität könne er wenig anfangen, aber er sei jung und er habe weiterhin Träume, meinte der in Kopenhagen und Athen lebende griechische Regisseur Gabriel Tzafka (28 Jahre). Mobilität und Freizügigkeit sind für ihn die zentralen europäischen Kategorien und Errungenschaften. Tzafka verwies zugleich darauf, dass Mobilität und Freizügigkeit voraussetzungsreich sind. Viele junge Menschen in den südeuropäischen Krisenländern könnten Mobilität und Freizügigkeit gar nicht nutzen, da sie weder entsprechende Mittel noch Bildung und Fremdsprachenkenntnisse hätten. In seinem aktuellen Filmprojekt „RE:UNION“ portraitiert Tzafka junge Griech/innen, die in die nördlichen EU-Länder auswandern, um ihre Chance zu machen, die sie zuhause nicht sehen. „Exit“, die Emigration in andere, wirtschaftlich besser gestellte Länder der EU, transportiert hier die Ambivalenzen von Freiheit und Zwang.

Auch die Grüne Europa-Abgeordnete Ska Keller (32 Jahre) hob die individuellen und kulturellen Chancen von Mobilität und Migration hervor. Man könne jungen Menschen in den Krisenländern nicht vorwerfen, dass sie Exit wählen. Brain Drain und Brain Gain seien keine spezifischen Begleiterscheinungen der aktuellen Krisengeneration. Keller befürwortete die Position, dass der Blick auf „innereuropäische Migration“ entdramatisiert werden solle. Für viele sei es der Inbegriff von Freiheit, innerhalb der EU mobil sein zu können. Der wirtschaftliche Ausgleich müsse sich, über EU-Politik unterstützt, gesamteuropäisch herstellen. Formen von zivilgesellschaftlichem Protest und Engagement sieht Ska Keller heute überall in Europa durch neuen, „individualistischen Protest“ ergänzt und womöglich auch ersetzt, der sich in Blogs und Social Media abspiele. Er übernehme teilweise die Aufgaben von kollektiven Protestbekundungen.

#hope

Die Beiträge nährten vielfach den Verdacht, dass Europa als supranationales Institutionengefüge, als demokratische und freiheitliche Union mit neuen transnationalen Kulturen und Entwicklungsmöglichkeiten, eine Vision und in sozialer Hinsicht auch eine voraussetzungsreiche, manchmal auch elitäre Haltung ist. Reale Konflikte und strukturelle Herausforderungen werden nicht dadurch gelöst, dass wir optimistisch über sie hinweggehen. Dies könnte im Gegenteil eher zur Ausprägung von nationalen Populismen beitragen. Gerade aber unter jüngeren Leuten sind starke Stimmen vertreten, die den europäischen Traum einer neuen transnationalen Kultur und Zusammengehörigkeit leben und verteidigen. Der Jugendaktionsforscher und „soziale Entrepreneur“ Simon Schnetzer (34 Jahre), der sich für Gründerkultur und wirtschaftliche Entwicklung im ländlichen Raum einsetzt, sagte: „Das Wichtigste ist, den Menschen einen Nährboden für Kreativität und die Chance zu geben, daraus Perspektiven zu entwickeln. Ohne Geld geht es nicht, aber vor allem muss man daran glauben, dass es klappt.“